Seitwärts unterwegs - Schulterherein

Seitwärts unterwegs - Schulterherein

Das Schulterherein ist in vielerlei Hinsicht spannend für jedes (!) Pferd-Reiter-Paar. Sowohl geritten als auch geführt ist es eine kostbare Lektion die vermutlich stark unterschätzt wird und für viele nur als Einstieg in alle weiteren Seitengänge gilt. Den Spitznamen „Aspirin der Reiterei“ trägt es jedoch nicht umsonst!

Doch was genau ist denn das Schulterherein?
In der FN wird das Schulterherein im Endergebnis so beschrieben: „Die Vorhand des Pferdes wird so weit in die Bahn hineingeführt, dass die äußere Schulter des Pferdes vor die innere Hüfte des Pferdes gerichtet ist. Der innere Hinterfuß spurt in die Richtung des äußeren Vorderhufes. Das Pferd ist um den inneren Schenkel gleichmäßig gebogen und bewegt sich auf 3 Hufschlaglinien.“

Was bedeutet DAS denn???
Am einfachsten ist das anhand eines Bildes „Pferd von oben“ zu erklären:

Bild links: Dein Pferd läuft gerade an der Bande entlang. Seine 4 Füße bewegen sich auf 2 Hufschlägen (rote Linien): Vorne links und hinten links auf dem 1. Hufschlag, vorne rechts und hinten rechts auf dem 2. Hufschlag.
Der dritte Hufschlag (blaue Linie) befindet sich innen vom Pferd, nochmals im selben Abstand wie 1. und 2. Hufschlag.

Bild rechts: Dein Pferd bewegt sich mit den Hinterbeinen auf 1. und 2. Hufschlag und mit den Vorderbeinen auf 2. und 3. Hufschlag. Also eigentlich ganz einfach, oder?

In Bewegung sieht das dann von hinten so aus:

Wie bewege ich mein Pferd im Schulterherein?
Wie du zum Pferd stehen „musst“, hast du schon in den vorausgehenden Seitwärtsblogs gelernt. Hier nochmals ein Bild von Patricia und Spirit: Stehst du auf Höhe der Schulter deines Pferdes, so kannst du es mit deinem Körper seitwärts „schieben“. Die Gerte wird an der Stelle des seitwärts treibenden Schenkels eingesetzt.

Mein Model Patricia bevorzugt jedoch eine Position weiter vorne. Dies ist bei Pferden, welche sehr gut auf die seitwärtstreibende Hilfe durch die Gerte reagieren und/oder sich über das Vorwärts entziehen auch eine gute Möglichkeit. Am Ende wirst du einfach ein wenig ausprobieren müssen, was für euch am Besten funktioniert.

Nun führst du dein Pferd von der Bande weg, als wolltest du eine Volte führen. Sobald die Schulter die Bande verlässt „schiebst“ du es aber mit deinem Körper und der Gerte seitwärts weiter entlang der Bande. Et voilà, das Schulterherein!

„Oh nein, da kann man ja so viel falsch machen!!!“
Ganz und gar nicht! Wie ganz zu Beginn schon betont: Das Schulterherein ist eine Übung für jedes Pferd-Reiter-Paar! Also auch für Anfänger – sowohl auf der 4- als auch auf der 2-Beiner-Seite. Die FN schreibt vor „auf 3 Hufschlägen“. ABER auch auf 4 Hufschlägen oder 2,5 Hufschlägen ist diese Übung nicht falsch und vor allem nicht sinnlos. Lieber seitwärts unterwegs und nicht nach Schulbuch als gar nicht seitwärts unterwegs. Dein Pferd wird auf jeden Fall beweglicher, kräftiger und gerade gerichteter. Aber was heißt denn schon „nach Schulbuch“?

Für alle Streber ;)

Wenn du der Meinung bist, das Schulterherein klappt schon sehr gut bei dir und deinem Pferd, oder diese Ausführungen könnten noch genauer sein, dann lies einfach weiter, aber nimm dir etwas Zeit dafür! Dies ist dann kein „normal langer“ Blog mehr!!!

Ein Ausflug in die Geschichte
Schon vor dem heutige Tag gab es – natürlich – verschiedene Beschreibungen des Schulterhereins.

François Robinchon de la Guérinière, (* 1688, † 1751) gilt als Erfinder des Schulterhereins und beschreibt es als Lektion, bei der das innere Bein, das Äußere kreuzt:

„Diese Schule (das Schulterherein) entbindet die Schultern, weil das Pferd in jedem Schritt, den es in dieser Stellung macht, mit dem inneren Vorderschenkel vorwärts über den äußeren schränkt, und den inneren Fuß über und auf die Linie des äußeren Fußes setzt. Es ist leicht zu begreifen, dass durch diese Bewegung, welche die Schulter in dieser Stellung zu machen genötigt ist, alle Triebfedern dieses Teils in Tätigkeit gesetzt werden. Das Schultereinwärts bereitet das Pferd vor, sich auf die Hanken zu setzen; denn bei jedem Schritt, den es in dieser Stellung tut, bringt es den inneren Hinterschenkel unter den Leib, und setzt ihn über den äußeren, welches es, ohne die Hanken zu senken, nicht verrichten kann.“

Vor Guérinière beschieb jedoch schon William Cavendish, Duke of Newcastle (* 1592, † 1676)  eine Form des Schulterhereins:

„… so bedienet Euch der beiden Schenkel, haltet es mit dem auswendigen in Gehorsam und mit Eurem inwendigen Schenkel treibet den inwendigen hinteren Fuß noch zu dem auswendigen hintern Fuß hinaus, so muss es die Hüften biegen, dann die hinteren Schenkel kommen unter den Bauch hinunter, und indem die Füße zusammengerücket sind, so kann das Pferd leichter auf den Hüften bleiben.“

Hier bleibt allerdings offen, ob sich nun die Beine kreuzen oder ob auf die Linie des äußeren Hufes gefußt wird. So oder so, ist aber auch bei ihm das Vorwärts wichtig!

Der für mich größte Unterschied zur FN (siehe oben unter „Doch was genau ist denn das Schulterherein?“) besteht darin, dass sowohl Guérinière als auch Cavendish das Schultereherein als Weg zu einem besser gebogenen aber auch besser gerade gerichteten und versammelten, im Gleichgewicht stehenden Pferd verstehen. Es waren auch Varianten im Abstellungsgrad etc. erlaubt.

In der FN hingegen wird das Schulterherein erst ab M-Lektionen verlangt und es ist ganz klar definiert, dass es auf drei Hufschlaglinien ausgeführt wird – ungeachtet der körperlichen Voraussetzungen des Pferdes.

Das Schulterherein in der Physiotherapie
Das Schulterherein ist ganz klar eine meiner liebsten Übungen im Schritt. Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll!

  • Der Schultergürtel wird mobilisiert: das Buggelenk muss sich von den Rippen lösen und wieder nähern und die Muskulatur um die Schulterblätter wird gedehnt und gelockert.
  • Die Kruppe wird gesenkt, das Becken abgekippt und mehr Gewicht auf die Hinterhand verlagert, wodurch das Pferd seinen Brustkorb anheben kann. Das braucht Bauchmuskeln!
  • Die äußere Seite wird gedehnt, die innere muss aber genauso locker lassen um die benötigte Biegung anbieten zu können.
  • Die Dornfortsätze der Wirbelsäule rotieren nach außen; durch den Viertakt (Schritt!)und die so entstehenden Bewegungen in der Wirbelsäule können sich kleinere Blockaden von alleine lösen. Die Wirbel werden sozusagen neu geordnet.
  • Wenn alle oben genannten Punkte genauso stattfinden, kann das Pferd nicht anders, als seinen Hals locker nach innen zu biegen und eine korrekte Stellung anzubieten.

Das Ganze hört sich, so aufgezählt, doch recht anstrengend an – und das ist es auch! In der Reha wird diese Übung sehr gerne genutzt um Muskulatur aufzubauen. Denkt also immer daran, dass das Pferd bei dieser Übung auch müde wird! Vielleicht ist es zu Beginn nur in der Lage einen einzigen korrekten Schritt im Schulterherein zu bewältigen. Lobt diesen also ausgiebig!

Zudem muss das Pferd sich bewusst mit seiner Vorhand auseinandersetzen, welche von der Anlehnung gebenden Bande weggeführt wird. Vor allem Pferde, bei denen noch nicht viel an der Geraderichtung gearbeitet wurde, fangen nun an zu schwanken. Auch auf der nicht-hohlen Seite ist diese Übung eine echte Herausforderung für das Gleichgewicht, da sich die Belastung der Beine umdreht (z. Bsp. von hinten links und vorne rechts zu hinten rechts und vorne links).

Und wie soll das nun aussehen?
Tja, das ist eine gute Frage die ganz einfach zu beantworten ist: Dem Ausbildungsstand und den körperlichen Voraussetzungen des Pferdes angepasst.

Da ich vermute, dass dir diese Antwort nicht reichen wird, nun etwas genauer:

Für mich ist das Schulterherein ganz klar eine Übung die von Anfang an, also auch schon in der „Grundschule“ der Pferde eingebaut werden sollte. Am einfachsten leitest du das Schulterherein aus einer Biegung heraus ein. Also entweder aus der Ecke oder aus einer Volte.

Grundschule:
Dein Pferd lernt, was „unter den Schwerpunkt treten“ bedeutet und findet heraus, dass es eine Hinterhand hat. Das sind wichtige Voraussetzungen um später einen Reiter zu tragen.

Es lernt also

  1. Die Schulter von der Bande zu lösen, während
  2. Die Hüfte auf dem ersten Hufschlag bleibt.
  3. Der innere Hinterhuf fußt zunächst minimal versetzt zum inneren Vorderhuf. Eine halbe Hufbreite reicht zu Beginn schon aus! Trotzdem ist dies schon eine leichte Seitwärtsbewegung – dein Pferd lernt also auch die ersten Hilfen dafür (durch z. Bsp. eine Gerte am Ort des zukünftig seitwärts-treibenden Schenkels).
  4. Dadurch muss es auch die Hüfte leicht abkippen – das ist Bauchmuskeltraining.
  5. Durch die geringe Verschiebung bleibt das Vorwärts erhalten, das innere Hinterbein soll nach wie vor weit vor fußen. Die größte Gefahr besteht darin, dass das Pferd zu wenig Kraft hat um die Abstellung zu meistern, es mogelt sich dann durch kleinere Schritte mit der Hinterhand aus der Situation heraus. Also lieber weniger Abstellung, dafür korrekt.

Gymnasium:
Die Bauch- und Hinterhandmuskulatur ist inzwischen so stark, dass auf drei Hufschlägen gearbeitet werden kann. Außerdem löst ihr euch auch mal von der Bande -  ein Gleichgewichtsakt. Das Schulterherein kann z. Bsp. wunderbar auf einer Kreislinie gearbeitet werden.

Dein Pferd lernt

  1. Sich stärker zu biegen
  2. Das Becken stärker abzukippen
  3. Eine stärkere Hankenbiegung zu halten – das Schulterherein wird also ein ausgeprägtes Muskeltraining.

Durch das Lösen von der Bande lernt es zudem

  1. Auch ohne helfende Wand die Biegung beizubehalten,
  2. Besser auf die äußeren, begrenzenden Hilfen zu achten und
  3. Sein Gleichgewicht auch ohne Begrenzung im Seitwärts zu finden.

Universität:
Dein Pferd ist auf dem Weg zum Professor. Nun kannst du anfangen mit den Hufschlägen zu spielen. Es hat genügend Kraft in der Hinterhand um auch diese zu kreuzen ohne dabei das Vorwärts zu verlieren. Das bedeutet, dass das Schulterherein auch auf vier Hufschlägen gearbeitet werden kann, ohne dass das Abkippen des Beckens zugunsten einer stärkeren Rotation des Beckens verloren geht. Durch den Wechsel von 4 zurück auf 3 Hufschläge kann dies zur Not korrigiert werden.

Das Schulterherein beim Reiten
Die Biomechanik eröffnet viele Möglichkeiten, wie man einem Pferd helfen kann, gewisse Lektionen zu lernen. Dazu muss man kein guter Reiter sein, man muss nur wissen, welche Aspekte in einer Lektion wichtig sind, um es dem Pferd so einfach wie möglich zu machen. Für mich macht aber genau das einen guten Reiter aus.

Das Schulterherein bringt das Gewicht des Pferdes sowohl von vorne nach hinten als auch auf das innere Hinterbein und das äußere Vorderbein. Möchte ich also eine Lektion reiten, bei der es wichtig ist diese Beine zu belasten, so kann ich vorbereitend das Schulterherein reiten.

Beispiel 1:
Dein Pferd hat Mühe korrekt durch die Ecke zu gehen und kürzt diese immer ab.

Was passiert hier?
Dein Pferd „rettet sich“ durch die Ecke, indem es sich auf die innere Schulter legt und so durch die Ecke „fällt“. Das innere Hinterbein wird dabei entlastet, das Äußere durch den größeren Radius aber kaum mehr belastet.

Was kannst du tun?
Reite auf der langen Seite an E oder B eine 10m-Volte. Sobald du wieder an der Bande ankommst gehst du direkt in ein Schulterherein über. Kurz vor K oder M richtest du dein Pferd gerade, gibst nochmals zwei halbe Paraden oder Bügeltritte in das innere Hinterbein und reitest dann durch die Ecke. Die Übung funktioniert sowohl im Schritt als auch im Trab.

Beispiel 2:
Dein Pferd hat Mühe beim Übergang in den Galopp.

Was passiert hier?
Um anzugaloppieren, muss das äußereHinterbein das Pferd in den Galoppsprung hinein stemmen. Dieses Bein ist also auch für die Aufwärtsbewegung des Galoppsprunges zuständig. Wenn dein Pferd mit diesem Bein nicht in die Last fußt, also z. Bsp. außen vorbei fußt oder die Gelenk nicht beugen möchte, wird es nicht sauber angaloppieren könne.

Was kannst du tun?
Das Schulterherein bringt die Last auf das innere Hinterbein. Folglich fällt es deinem Pferd einfach nach dem Schulterherein anzugaloppieren, wenn direkt nach dem Schulterherein ein Handwechsel stattfindet. Das alte innere Hinterbein, welches die Last aufgenommen hat wird dadurch zum neuen äußeren Hinterbein, welches den ersten Galoppsprung einleitet.

Beispiel angaloppieren linke Hand: Reite auf rechterHand auf dem Zirkel. Vom Zirkelpunkt auf X zu reitest du im Schulterherein auf der Zirkellinie weiter. Kurz vor X stellst du dein Pferd um auf Linksbiegungund galoppierst linksan, auf den neuen, linkenZirkel.

Eine weitere Möglichkeit ist, vor dem angaloppieren auf linker Hand auf linkerHand Konterschulterherein zu reiten (also in Rechtsbiegung), daraus umzustellen auf Linksbiegung und dann anzugaloppieren. Dies funktioniert sowohl aus dem Trab als auch aus dem Schritt.

Jetzt bist wieder du dran! Wie immer wünsche ich dir nun viel Spaß beim Ausprobieren!

Fotos: Auf den Fotos siehst du Patricia Wegmann von www.wolfsgeist.ch, die für mich mit ihrem wunderbaren New Spirit gemodelt hat. Spirit trägt einen Kappzaum von Barefoot, welchen du z. Bsp. HIER erwerben kannst.