Was soll es sein: Lösungsphase oder Aktivierungsphase?

Was soll es sein: Lösungsphase oder Aktivierungsphase?

Jeder weiß: Vor der Trab- und Galopparbeit muss das Pferd gut im Schritt aufgewärmt sein. Darüber, wie dieser Zeitraum genutzt wird, wird jedoch kaum gesprochen. Vom Schritt am langen Zügel mit Handy in der Hand bis zu intensiver Handarbeit auf der Volte sieht man hier alles.

Tatsächlich wäre es aber sinnvoll, die aufwärmende Schrittphase als das anzusehen was sie sein sollte: SchrittARBEIT - und sie den individuellen Bedürfnissen anzupassen. Nicht umsonst spricht man hier auch von der Lösungsphase - aber was genau wird denn gelöst? Und ist das immer sinnvoll?


Der Begriff "Lösungsphase" ist schon vor einigen Jahrzehnten entstanden. Zu dieser Zeit waren die Pferd zuchtbedingt körperlich noch in einem ganz anderen Zustand. Hypermobilität war kaum ein Problem und das Ziel der täglichen Arbeit bestand vor allem darin, Muskulatur und Sehnen geschmeidiger und flexibler zu bekommen um ausdrucksstarke, raumgreifende Gänge zu erhalten und Verschleiß vorzubeugen. DiePferde mussten also "gelöst" werden.

In der modernen Pferdezucht zeigen jedoch schon Fohlen ausdrucksstarke Gänge, das Bindegewebe ist viel weicher und der Muskeltonus niedriger geworden. Bei diesen Pferden müssen Stabilität und Kraft-Ausdauer aufgebaut werden, um Verschleiß vorzubeugen und Hypermobilitäten aufzufangen. Ein Lösungsphase ist somit nicht der richtige Einstieg in die Arbeit, da diese Pferde schon übermäßig "gelöst" und "in den Seilen hängend" aus dem Stall kommen . Hier sollte man eher von einer Aktivierungsphase sprechen, in der die Muskulatur aktiviert und der Muskeltonus heraufgesetzt wird.

Woher weißt Du, was Dein Pferd braucht?

Wie Du die Aufwärmphase gestaltest hängt somit vor deinem Pferd ab. Wenn du angepasst aufwärmst, schenkt dir dein Pferd viele Lektionen in der Arbeitsphase und dein Training wird effizienter.

Welche Faktoren beeinflussen die Wahl der Lektionen in der Aufwärmphase?

Um es nicht zu unübersichtlich werden zu lassen picke ich mir die drei für mich wichtigsten Faktoren heraus: Muskulatur, Bindegewebe und Psyche:

Mukulatur
Jedes Lebewesen hat einen individuellen Muskeltonus. Der Muskeltonus bezeichnet den Spannungszustand, also die Festigkeit, der Muskulatur. Ein Pferd mit einem hohen Muskeltonus hat eine härtere Muskulatur im Ruhezustand. Dadurch können diese schneller maximal kontrahiert werden, der Bewegungsradius der einzelnen Muskeln ist jedoch geringer.

Ein Pferd mit einem niedrigen Muskeltonus hat weichere Muskeln im Ruhezustand. Es braucht länger bzw. mehr Spannungsaufbau, um die Muskeln maximal zusammenzuziehen, dafür ist der Bewegungsradius größer.

Bindegewebe
Das lange als "Füllmaterial" unterschätzte Bindegewebe ist seit Jahren als "Faszien" in aller Munde. Aber auch Sehnen und Bänder gehören zum Bindegewebe.

[Ein kurzer Ausflug zu den Faszien. Sie sind nicht nur Hüllen einzelner Muskeln sondern auch von Muskelbündeln (mehrere Muskeln) und Muskelfasern (also einzelnen Muskelzellen). Jede Hülle (z.B. um Organe) oder Auskleidung (z.B. des Brustkorbes, das Brustfell) in unserem Körper wird von Faszien gebildet, die ineinander übergehen und am Ende jede einzelne Zelle umhüllen. Faszinierend, oder?]

Pferde mit festem Bindegewebe weisen eine geringere Dehnfähigkeit von Sehnen und Bändern aber auch der Muskelhüllen auf. Das Bindegewebe fängt die Bewegungen sozusagen früher auf.

Pferde mit weniger festem Bindegewebe haben entsprechend eine höhere Dehnfähigkeit, Bewegungen werden später aufgefangen, ein größeres Bewegungsausmaß entsteht.

Psyche
Ganz einfach gesprochen: Eine angespannte Psyche führt zu angespannten Muskeln und anders herum.

Psychisch angespannte Pferde sollten in der Aufwärmphase herunterfahren und ihren Fokus auf sich und den Reiter lenken. Das erreicht man durch abwechslungsreiche Aufgabenstellung. (nicht Schritt auf ganzer Bahn...!) und ruhigen Lektionen. Tempiwechsel innerhalb des Schritts ersetzen anregende Übergänge ins Stehen oder Traben.

Die aufgezählte Faktoren lassen sich nun frei kombinieren, je nach Typ. Um es für Dich anschaulich zu gestalten, kombiniere ich für Dich zwei Extreme:

Das modern Sportpferd

- niedriger Muskeltonus, weiches Bindegewebe -

Diese Pferde zeigen von klein auf spektakuläre Gänge, da Muskulatur und Bindegewebe einen großen Bewegungsradius zulassen.

Positiv:
unglaubliches Bewegungs- und Leistungspotenzial, der Baletttänzer unter den Pferden

Negativ:
Wenn das Pferd "latscht" bremsen weder Muskulatur noch Sehnen u. Bänder die Bewegung. Es kommt zu starkem Verschleiß durch überlastetes Bindegewebe.

Training:
Kraft - und Kraftausdauer-Training stehen hier im Vordergrund. Diese Pferde benötigen mehr Kraft um in einer positiven Muskelspannung zu laufen, da das BG sie kaum unterstützt. Sie ermüden schnell und sind Meister der Kompensation in einzelnen Muskelgruppen, was zu deutlich sichtbarer Kompensationsmuskulatur führt.

Aufwärmphase:
Diese sollte als Aktivierungsphase gestaltet sein, in der die Grundspannung der gesammten Muskulatur erhöht wird. zB. Durch zackige Übergänge vom Stehen in den Schritt, durch häufige Schitt-Trab-Schritt-Übergänge, durch erhöhte Schritt- Stangen und Stangen salat, usw.

Psyche:
Angespannte Pferde diesen Typs neigen dazu sich in den für die Flucht wichtigsten Muskeln dauerhaft festzumachen, was zu Bewegungseinschränkungen führt, die Andernorts kompensiert werden. Beispiel: Rücken wird durchgedrückt und schwingt nicht mehr, der Übergang zwischen Lende und Kreuzbein kompensiert dies durch erhöhte Beweglichkeit, das Pferd wird dadurch in der Hinterhand instabil.
Entspannte Pfede diesen Typs erinnern mich oft an Vorpuperäre Jungs mit gefühlt zu langen Armen und Beinen, die völlig unkoordiniert und ohne vernünftiges Gleichgewicht zu sein scheinen.

Der typische Kaltblüter

- hoher Muskeltonus, straffes Bindegewebe -

Diese Pferde sind in ihrem Gangbild sehr unspektakulär, wirken wenig Raumgreifend und werden dadurch gerne übersehen.

Positiv:
Bewegungen, die die Muskulatur nicht schon selbst aufgefangen hat, werden vom straffen Bindegewebe gut abgebremst. Durch eher zuckelige Gänge sind diese Pferde zunächst einfacher zu sitzen.

Negativ:
Die hohe Muskel- und Bindegewebsspannung zerrt an den Sehnenansätzen und führt an intensiver belasteten Stellen gerne zu knöchernen Veränderungen.

Training:
Gymnastizierung und erhöhen des Bewegungsradius stehen im Vordergrund. Kraft aufzubauen ist nicht das Problem, jedoch das Zulassen eines erhöhten Bewegungsradius durch Loslassen der Muskulatur.

Aufwärmphase:
Diese sollte als Lösungsphase gestaltet werden, in der die Flexi- bilität des Körpers gesteigert wird. zB. Durch viele Biegungs- und Stellungswechsel (Schlangenlinien, Kleeblatt etc.), durch verschiedenste Seitengänge und Übergänge zwischen Seitengängen usw.

Psyche:
Angespannte Pferde diesen Typs werden zum Brett. Ihre Flexibilität geht geht komplett verloren und sie sind wahnsinnig unbequem zu sitzen, man wird richtig durchgeschüttelt.
Entspannte Pferde diesen Typs geben einem das Balou-der-Bär- Gefühl und wirken manchmal etwas schwer zu motivieren, was oft dem unspektakulären Bild geschuldet ist und der dadurch scheinbaren Schwerfälligkeit.

Fazit

Kennst Du Körper und Psyche deines Pferdes, so kannst du durch anpassen der Aufwärmphase dein tägliches Training effizienter gestalten und, viel wichtiger, vom ersten Moment an gesunderhaltend Arbeiten.

Viele Trainingslehren sind noch auf Pferde "alten Schlags" mit festerem Bindegewebe ausgelegt und werden den heute erschreckend oft hypermobilen Pferden nicht gerecht. Umso wichtiger ist es, dass Du Dein Pferd diesbezüglich kennst und zusammen mit deinem Trainer die passenden Lektionen herausarbeitest kannst.

Viel Spaß dabei!